Das Lesen gehört zu den Phänomenen, die, weil sie sich ständig verändern, eigentlich immer zugleich historisch und systematisch betrachtet werden müßten. In diesem Handbuch zum Wissen über das Lesen steht am Anfang ein vorbildlicher Artikel zur „Geschichte des Lesens“ von Erich Schön. Vielfältiger Wandel wird rekonstruiert: Vom lauten zum stummen Lesen oder vom monastischen Lesen der Mönche zum scholastischen der Gelehrten oder von der Wiederholungslektüre, die didaktisch-exemplarisch eine tradierte Lehre bestätigt, zur einmaligen Lektüre immer neuer Texte. Auch die auf eine hintergründige Art aktuelle Klage über die Gefahren der Lesesucht und die Entstehung der Kinder- und Jugendlektüre werden historisch verortet. Die erfahrungs- und selbsterfahrungsorientierte Bildung des weltoffenen und intimen bürgerlichen Lesepublikums und die Verfestigung der Lesekultur zum Habitus des Bildungsbürgers, zu dessen Besitz auch das Buch gehört, werden analysiert. Neben dieser wohlproportionierten Darstellung der Entwicklung des Lesens von der Antike bis zum Nationalsozialismus, die die Präsentation des Wissens kompetent mit der Vergegenwärtigung des Forschungsstandes verknüpft, wird die historische Dimension im Artikel zur literarischen Zensur (von Dietrich Löffler) kritisch komplettiert: Wenn man die Sozialgeschichte des Lesens so Revue passieren läßt, fällt auf, wie viele Lesestrategien heute ahistorisch nebeneinander koexistieren.