In den letzten Jahren ist Müdigkeit/Fatigue als eines der häufigsten Probleme krebskranker Menschen erkannt worden. Obwohl verschiedene Autoren versucht haben, das Phänomen zu konzeptualisieren, bleiben die ursächlichen Mechanismen und Zusammenhänge unklar. Diese Studie hatte zwei Ziele: a) Müdigkeit bei krebskranken Menschen induktiv zu explorieren und b) das Erleben der Müdigkeit von Krebskranken mit demjenigen von gesunden Personen zu vergleichen, um krebsspezifische Müdigkeit und darunterliegende Konzepte zu entdecken. Dazu wurde eine qualitative Forschungsstrategie, die «grounded theory»-Methode angewandt. Die prospektive Studie wurde an der onkologischen Abteilung des Kantonsspitals St. Gallen, Schweiz, durchgeführt. Sie umfaßte zwei Studiengruppen, bestehend aus 20 Krebskranken und 20 gesunden Personen. Zur Datenerhebung wurden unstrukturierte, auf Tonband aufgenommene Interviews durchgeführt. Die Datenanalyse erfolgt mittels Inhaltsanalyse der Transkripte und konstanten Vergleichs. In beiden Studiengruppen waren verschiedene Themen identifizierbar, sie paßten jedoch in ein gleiches Klassifikationssystem, das Müdigkeit/Fatigue in physische, affektive und kognitive Manifestationen einteilte. Die physischen Manifestationen waren in beiden Gruppen ausgeprägter als die affektiven und kognitiven. Bei den Krebskranken wurde Müdigkeit als eine reduzierte, körperliche Leistungsfähigkeit, als extreme, unübliche Müdigkeit, als Schwäche und als unüblicher Bedarf an Ruhe geschildert, was bei den gesunden Personen ganz anders war. Das Konzept der Malaise wurde in dieser deutschsprachigen Population in keiner der beiden Gruppen als Form der Müdigkeit bestätigt. Die linguistische Exploration in den beiden Gruppen wies auf die unterschiedliche Wahrnehmung der Müdigkeit hin. Die Bildung einer vorsichtigen, theoretischen Begründung umfaßte die Beschreibung der Entstehung von Müdigkeit/Fatigue in drei Schritten: Nozizeption, Wahrnehmung und Expression. Das sich herausbildende Konzept teilt Müdigkeit ein in physische, affektive und kognitive Manifestationen. Das Erleben des Phänomens ist unterschiedlich zwischen Krebskranken und Gesunden. Die Resultate dieser qualitativen Studie können nicht generalisiert werden, sie haben aber mehr Klarheit über das subjektive Empfinden der Müdigkeit geschaffen und bilden einen wissenschaftlichen Grund für weitere, kontrollierte Studien.